Urs Jaeggi
Soulthorn

Roman
1990. 208 Seiten. Gebunden

»Soulthorn« ist ein Buch, dessen ergreifende Ehrlichkeit sich darin zeigt, dass Distanznahme Raum für den Zweifel schafft. Der fiktive Rahmen des Romans, sein in Sequenzen aufgelöster Aufbau und sein sprachlicher Duktus führen dem Leser die Suche nach der Wahrheit als etwas Unsicheres und Ungesichertes vor.

In diesem Roman von Urs Jaeggi kreuzen sich zwei Motive: die Liebe eines Mannes zu einer Frau und dessen Hassliebe zu seiner Heimatstadt, aus der er schon längst geflohen ist.

»Soulthorn« – deutsch: Seelenstachel – erzählt die Geschichte des Kunstmalers Kocher, der mit seiner Freundin Banholzer von Berlin, wo sie wohnen, nach Solothurn fährt, um sich, geborgen im Wissen um ihre Liebe, seinem Herkommen auszusetzen.

Während zweier Tage durchstreifen sie die Stadt und ihre Umgebung, und in Kochern erinnerndem Erzählen werden seine Kindheit und Jugend in den dreißiger und frühen vierziger Jahren lebendig, blitzen in den nachgezeichneten Biographien von Tante Amalie, der Weißnäherin, und von ihrem Gatten Otto, dem Bruder von Kochers Vater, soziale, politische und wirtschaftliche Verhältnisse auf, gewinnt die Stadt mit ihren erinnerungsträchtigen Örtlichkeiten – der Kathedrale, der Schanze, dem Zeughaus, der

Einsiedelei – historische Tiefe, kündet der Jura von nie versiegender Sehnsucht, die Aare vom immer gleichen Fluss der Dinge, das Museum von anderen Welten ... Indem Kocher der Freundin sein Leben erzählt, damit es Teil ihrer Zweisamkeit werde, zeichnet er das innere und äußere Porträt seiner »idyllischen« Heimatstadt, die von Fremden, Touristen, überflutet ist, aber dem Fremden gegenüber verschlossen bleibt – selbstbewusst, ja selbstzufrieden. Und doch: Kocher weiß, dass er an diese Stadt gefesselt ist, dass sie ihn nicht loslässt, dass er von ihr nicht loskommt. Was sie ihm im Guten wie im Bösen angetan hat, ist Teil seiner selbst. Das Herkommen lebt auch in der Fremde fort.

Das Buch endet mit dem Nachwort eines fiktiven Herausgebers. Wir erfahren, dass Kocher und Banholzer nach ihrem zweitätigen Streifzug spurlos verschwunden sind. Was dem Nachwort vorangeht, fand sich in einem von Kocher zurückgelassenen Notizbuch. »Ich spüre beim Erzählen meinem Ich gegenüber immer eine Distanz. Ich will das Gewesene vor mir aufbauen, nicht mich drin versenken«, sagt Kocher in dem Roman. Diese Distanz ist auch die Distanz von Urs Jaeggi.




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